Herr Dr. Reinhard Junker von der Studiengemeinschaft Wort und Wissen hat mir am 23. September 2002 folgende Anmerkungen zu meinem Artikel über Kreationistische und evolutionistische Wahrscheinlichkeitsrechnung geschickt. Ich habe Reinhards Text inhaltlich nicht verändert, das Aussehen aber an den Stil meiner Site angepasst. Außerdem habe ich seinen Text mit meinem Text so verlinkt, dass Sie jederzeit die gewünschten Teile im Zusammenhang lesen können.
Meine Replik habe ich am Ende des Texts formuliert und verlinkt.
Zunächst: Ich stimme zu, daß man das Beispiel mit dem Insulin nicht so rechnen darf, wie Du das angeführt und kritisiert hast. Das ist verfehlt, weil der Selektionsaspekt nicht berücksichtigt wird und weil in der Tat in der mutmaßlichen Evolution keine ganz bestimmten Proteine gebildet werden mußten. [ Replik ]
Doch halte ich Deinen Vergleich mit den Biergläsern ebenfalls für verfehlt, weil er das evolutionstheoretische Problem nicht trifft. Du vergleichst Unvergleichbares. [ Replik ]
Du schreibst:
Wie wahrscheinlich ist dieses Ereignis?
Klar: extrem umwahrscheinlich, wenn exakt die beschriebene Konstellation dabei herauskommen sollte.
Du schreibst:
Klar, das leuchtet sofort ein.
Weiter schreibst Du:
Vom Standpunkt der Evolution aus gesehen muß nur realistisch gefordert werden können, dass abiotisch irgendwelche Moleküle entstanden sind, die bestimmte Eigenschaften aufwiesen. Welche speziellen Moleküle das waren, ob das heutige Leben diese noch verwendet und so weiter, sind vollkommen offene Fragen.
Das heißt, Du gehst wie folgt vor: Du vergleichst das evolutionäre Problem, irgendein funktionsfähiges Protein zu erhalten, mit dem "Problem", in einer Kneipe irgendein mit Bier gefülltes Glas zu erhalten. Diese beiden "Probleme" sind aber in keiner Weise vergleichbar. Das "Problem" mit dem Bier ist unter den gegebenen Randbedingungen völlig trivial. Beim Problem, irgendein funktionsfähiges Protein, kann man dagegen eine Reihe von Minimalbedingungen angeben, die auch gelten, wenn man keinerlei Vorgaben bezüglich der zu erreichenden Sequenz macht. Klar ist z. B. (nach gegenwärtigem Kenntnisstand natürlich), daß eine Mindestkettenlänge benötigt wird. Und die Frage, ob das experimentell unter präbiotischen Bedingungen erreicht werden kann, kann auch - unter Ursuppenbedingungen - mit wahrscheinlichkeitstheoretischen Überlegungen angegangen werden. [ Replik ]
Es reicht auch nicht, wenn Du schreibst, daß die Moleküle "bestimmte Eigenschaften" aufwiesen. Diese "bestimmten Eigenschaften" mußt Du konkretisieren und man kann sie konkretieren: Die zu bildenden Moleküle müssen biologische Funktionen ausüben können. "Bestimmte Eigenschaften" hat alles. [ Replik ]
(Entprechende Kritik gilt für den herabfallenden Ziegel, den Martin Neukamm bemüht, wenn er meint, es sei zwar extrem unwahrscheinlich, daß die Splitter nach dem Aufprall eine bestimmte Formen und Positionen einnehmen würde. Aber klar sei doch, daß sie irgendwelche Formen und Positionen einnehmen würden. Er vergleicht hier das Herunterfallen eines Ziegels, das letztlich gleichbedeutend damit ist, daß es irgendwelche Scherben produziert, mit dem Entstehen biologisch funktionaler Information - zwei völlig verschiedene "Probleme".) [ Replik ]
Dein Vergleich trifft daher auch unser Beispiel mit dem Bakterienmotor nicht, welches wir im evolutionskritischen Lehrbuch wahrscheinlichkeitstheoretisch dargestellt haben. Man kann nämlich sagen:
Auch wenn man keine bestimmte Konstruktion des Motors vorgeben kann, die evolutionstheoretisch gebildet werden mußte, ist doch klar, daß nach gegenwärtigem Wissensstand ein wie auch immer gearteter Motor
verschiedene Bauteile benötigt, von denen auf keines verzichtet werden kann,
daß für jedes Bauteil mehrere wie auch immer geartete Mutationen benötigt werden, damit aus einem wie auch immer gearteten Vorläuferprotein ein Motorprotein mit passender Funktion entsteht.
Dein Bierglasvergleich ist auch hier wieder ganz anders gelagert und trifft das evolutionstheoreitsche Problem nicht. Unsere Wahrscheinlichkeitsrechnung mit dem Bakterienmotor kannst Du also mit dem Hinweis auf den Bierglasvergleich nicht abweisen. [ Replik ]
Weiter schreibst Du:
Das halte ich für eine unbegründete Behauptung. Uns sind keine Experimente bekannt, die diese Behauptung belegen. Mindestens mußt Du konkretisieren, was die mit "sehr komplexe Moleküle, die alle Eigenschaften aufweisen, die für eine Evolution benötigt werden" meinst. Vemutlich meinst Du mehr als nur Aminosäuren, denn diese sind nicht sehr komplex. Mich würde sehr interessieren, an welche Experimente Du in diesem Zusammenhang denkst. [ Replik ]
Weiter schreibst Du:
Man weiß aber, was heute existiert, und man kann Minimalschritte und die dafür erforderlichen Änderungen formulieren, die nötig waren, um (unter evolutionstheoretisch wohlwollenden Annahmen) das heute Existente (z. B. Bakterienmotor) zu erreichen. [ Replik ]
Man kann auch sagen, daß wie immer die Moleküle damals - im evolutionären Szenario - ausgesehen haben, diese eine gewisse Komplexität benötigen, um biologische Funktionen ausüben zu können. Und dafür kann man wieder chemische Minimalbedingungen angeben. Und ob diese ohne vorherige Anwesenheit von Leben aufgrund bekannter chemischer Gesetzmäigkeiten erzeugbar sind, darüber kann man Aussagen machen und muß dieses Problem nicht im Nebel der damals unbekannten Verhältnisse verschwimmen lassen. [ Replik ]
Wie Du vermutlich weißt, wenden wir uns selber gegen dieses Argument. Aber: Beim Bakterienmotor ist klar, daß er nicht dadurch gebildet werden, kann, daß eine Mutation nach der anderen schrittweise selektiv festgehalten wird. [ Replik ] Der Schritt von einer selektionspositiven Struktur zur nächsten benötigt nach allem, was wir wissen, zahlreiche unabhängige Mutationen. Wir landen hier bei der Geschichte von der "irreduziblem Komplexität". Wenn man plausibel machen kann, daß ein (vergangener, zu postulierender) Evolutionsschritt nicht mehr verkleinert werden kann, dann kann man Wahrscheinlichkeitsrechnungen anstellen. Mich würde daher interessieren, wo in unseren Rechnungen über den Bakterienmotor falsche Voraussetzungen über Evolution einfließen. [ Replik ]
Einverstanden - das gilt für viele. Aber auf der irrigen Auffassung, Evolution neuer Konstruktionen könne man auf der Basis von Einzelmutationen und sofort wirkender anschließender (positiver!) Selektion verständlich machen, beruht die Behauptung, man wisse im Prinzip, wie Makroevolution funktioniert. [ Replik ]Beim Bakterinmotorbeispiel in unserem Lehrbuch wird der Selektionsaspekt ausdrücklich berücksichtigt. Deine Kritik trifft wiederum nicht die Wahrscheinlichkeitsrechnung im evolutionskritischen Lehrbuch. [ Replik ]
Mein Artikel entstand im Rahmen einer UseNet-Diskussion, in der mir mal wieder ein Kreationist eine 'Berechnung' in der kritisierten Form präsentierte, um die Möglichkeit einer naturalistischen Evolution zu widerlegen. Nach einigem Überlegen fiel mir das Beispiel mit den Biergläsern ein und ich habe damit versucht, anschaulich zu machen, warum ich diese Rechnereien nicht besonders ernst nehmen kann. Die erste Fassung des Artikels wurde von Kreationisten ziemlich heftig kritisiert. Im Verlauf dieser Diskussion haben auch einige Mathematiker meinen Artikel gelesen und mir nützliche Anregungen zukommen lassen. Nach deren Einarbeitung habe ich keine sachlichen Einwände gegen den 'destruktiven' Inhalt meines Artikels mehr erhalten.
Reinhard fasst in seinen ersten Zeilen meine Kritik an den 'primitiven' Rechnereien von Kreationisten, die man leider immer noch in vielen kreationistischen Arbeiten findet, sehr gut zusammen. An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass die meisten Mitarbeiter von Wort und Wissen, zumindest, seit ich die Veröffentlichungen dieser Gemeinschaft verfolge, keine derart primitiven Rechnereien verwenden. In einer Arbeit von Scherer (dem Vorsitzenden von Wort und Wissen) werden derartige Rechnereien sogar expressis verbis (beispielsweise in seinem Buch 'Entstehung der Photosynthese') abgelehnt.
Es gibt neben dem Typ Berechnungen, die auch Reinhard kritisiert und die ich als kreationistisch bezeichnet habe, noch weitere, wesentlich elaboriertere, die man vielleicht als ID-'theoretisch' bezeichnen könnte. In letzteren wird auf durchaus plausiblen Annahmen aufbauend versucht, Wahrscheinlichkeiten abzuschätzen. Auf derartige Berechnungen gehe ich weiter unten ein.
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Selbstverständlich hat Reinhard hier Recht. Mein Artikel ist 'einseitig': er ist nur kritisch, nicht konstruktiv. Der 'Bierglasvergleich' soll lediglich veranschaulichen, dass man jedes Ereignis im Nachhinein beliebig unwahrscheinlich rechnen kann. Entscheidend dabei ist, dass daraus nichts über die Wahrscheinlichkeit des Auftretens dieses Ereignisses gefolgert werden kann.
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Wie oben schon geschrieben teile ich Reinhards Auffassung. Die Frage ist allerdings, ob wir schon die erforderlichen Kenntnisse haben, um überhaupt sinnvoll irgendwelche Wahrscheinlichkeiten für die abiotische Entstehung von Molekülen, aus denen Protobionten entstanden, zu berechnen. Und einen extrem wichtigen Aspekt darf man auf keinen Fall vernachlässigen: in den Protobionten liefen die Synthesen möglicherweise vollkommen anders ab als im Regenzglas.
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Hier ist zu berücksichtigen, welchen Anspruch mein Artikel erhebt. Mir ging es lediglich um die Widerlegung von kreationistischen Rechnereien. Dazu reicht der 'Bierglasvergleich' aus. Ich erhebe nicht den Anspruch, eine Theorie der Abiogenese zu erstellen. Ich vertrete den Standpunkt, dass diesbezüglich noch viel zu wenig Klarheit herrscht. Bisher ist noch nicht einmal der Chemismus der Protobionten bekannt. Wie soll ich nun sinnvoll über die Wahrscheinlichkeit der abiotischen Entstehung von Molekülen diskutieren, die ich gar nicht kenne?
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Das sehe ich auch so. Es ist aber, um im Bilde zu bleiben, nicht möglich, aus der Unfähigkeit, die Art und Lage der Splitter nach dem Fall zu berechnen, auf die Wahrscheinlichkeit für die Bildung eines Ziegels zu schließen.
Nur als Anmerkung: Herr Neukamm hat seine Artikel über Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen grundlegend umgestaltet. Reinhard spielt auf die alte Version, die Herr Meis scharf kritisiert hat, an. Sie sollten auf jeden Fall die aktuelle Fassung beurteilen.
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Auch hier herrscht Konsens: ich habe mit meinem Artikel den Typ Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen der beispielsweise Eurem Bakterienmotor-Beispiel (stammt das nicht von Behe?) zugrunde liegt, gar nicht betrachtet.
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Ich bin kein Fachmann für derartige Detailfragen. Soweit mir bekannt ist, gibt es eine sehr umfangreiche Literatur über Experimente, in denen mögliche Bedingungen auf der Urerde simuliert wurden. Es scheint bestimmte Klassen von Molekülen zu geben, die sie sich unter diesen Bedingungen spontan bilden. Viele von denen findet man auch in rezenten Organismen. Der entscheidende Punkt scheint mir aber zu sein, dass man den Chemismus von Protobionten oder frühen Lebensformen gar nicht kennt. Mehr als (durchaus begründete) Spekulationen, wie diese aufgebaut gewesen sein könnten, gibt es nicht. Es macht daher auch wenig Sinn, über die Bildungswahrscheinlichkeit heutiger Biomoleküle, die ja in Lebewesen enzymkatalysiert und oft matrizengesteuert gebildet werden, unter abiotischen Bedingungen zu spekulieren.
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Das bestreite ich. Berechnungen funktionieren immer nach dem GIGO-Prinzip, das heißt, die Ergebnisse können nie besser sein als die Werte, die eingesetzt werden. Die von Dir genannten 'Minimalbedingungen' kannst Du erst abschätzen, wenn Du den genauen Mechanismus kennst, wie ein derzeitiges Lebewesen sich entwickelt hat. Die Berechnungen wie beispielsweise Euer Bakterienmotor sehen so aus, dass man abstrakt Schritte postuliert und dann irgendwelche Werte in Formeln einsetzt. Durch neue Befunde können sich diese Werte jederzeit ändern.
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Ich gehe davon aus, dass bisher noch viel zu wenig Fakten bekannt sind, um Deine Forderung nach konkreten Details zu erfüllen. Du kannst möglicherweise abstrakt über irgendwelche Chemismen diskutieren, die für heutige Organismen und die Stoffe, die diese enthalten, gelten. Solange Du die stoffliche Zusammensetzung der Protobionten nicht kennst, solltest Du erst weitere Forschungsergebnisse abwarten.
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Diese Aussage ist problematischer als sie auf den ersten Blick aussieht. Sie beruht auf einer bestimmten Auffassung von Evolution, nämlich dem Gradualismus. Andere Modelle gehen davon aus, dass zumindest die Ursprünge von neuen Strukturen nicht auf Selektion beruhen. Auf die von Dir geschilderte Weise erfolgt allerdings das Feintuning.
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Dafür bist Du bei mir an der falschen Adresse. Ich bin kein Fachwissenschaftler. Ich sehe nur, dass für eine sinnvolle Berechnung wichtige Details fehlen. Wie nun genau ein Bakterienmotor entsteht scheint mir noch nicht bekannt zu sein. Es reicht meiner Meinung nach nicht, irgendwelche abstrakten Schritte zu postulieren und dann irgendwelche Wahrschenlichkeiten für diese abzuschätzen. Das wäre in etwa so, als würdest Du die Synthese beispielsweise von Adenin aus Ammonium-Ionen, ein paar weiteren Ionen und Glucose in irgendwelche Schritte einteilen und berechnen wie wahrscheinlich so was ist. Jedes Bakterium auf einem Minimal-Nährboden zeigt Dir aber, dass das funktioniert.
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Auch hier sind wir uns einig: mehr als Modelle dafür, wie Makroevolution ablaufen könnte, haben wir derzeit nicht. Daraus aber zu schließen, dass man nun den Naturalismus aufgeben und 'Unwissen' durch 'Schöpfung' ersetzen sollte, scheint mir daraus auf keinen Fall zu folgen.
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Stimmt. Zu dem Typ Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen, die ID-'theoretischen' Ansätzen zugrunde liegen, werde ich noch einen eigenen Artikel schreiben.
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Junker, R.; Scherer, S. (Hrsg.) (2001) 'Evolution. Ein kritisches Lehrbuch. 5., aktualisierte Auflage' Gießen, Weyel
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an Thomas Waschke |
Erstellt: |
29. September 2002 |
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