Der folgende Text wurde mir freundlicherweise von Herr Prof. Dr. Kutschera zur Veröffentlichung auf meiner Site überlassen. Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift factum, in derin unregelmäßigen Abständen Artikel über Evolution erscheinen, in denen Autoren zu Wort kommen, die eher kreationistisch orientiert sind. Diese Zeitschrift können Sie auf der HomePage von factum bestellen.
Selbstverständlich habe ich diesen Text so, wie ich diesen von Herrn Prof. Dr. Kutschera erhalten habe, hier wiedergegeben. Ich habe allerdings die Formatierung dem Stil meiner Site angepasst und die Stellen, die ich zitiert habe, farblich hervorgehoben. Sie können so leicht im Kontext nachprüfen, ob meine Darstellung zutreffend ist. Die Überschriften der folgenden Tabelle stammen von mir.
Die Fragen stellte Herr Höneisen, der Chefredakteur von factum.
(Originalfassung, verändert publiziert in factum
23 Nr. 1, S. 34 - 36, 2003)
Uni Kassel, Lehrstuhl für Pflanzenphysiologie/Evolutionsbiologie
Verfasser des Lehrbuchs "Evolutionsbiologie. Eine allgemeine Einführung", Parey Buchverlag, Berlin 2001, 284 S. , 104 Abb., ISBN 3-8263-3348-9, € 29,95
Factum: Herr Professor, was verbinden Sie mit dem Wort Schöpfung?
Kutschera: Der Begriff "Schöpfung" entstammt dem Bereich des religiösen Glaubens. Im Verlauf der Menschheitsgeschichte wurden von unseren Vorfahren mehr als 100 verschiedene sich z. T. widersprechende Schöpfungsgeschichten verfasst. Der bekannteste Mythos ist im Buch Genesis der Bibel nachlesbar. Die dort niedergeschriebenen Allegorien sind durch die Erkenntnisse der Naturwissenschaften seit langem widerlegt. Ein bekannter Physiker soll einmal gesagt haben: man kann die Bibel wörtlich oder ernst nehmen. Dieser Ansicht schließe ich mich an. Da Schöpfungsmythen auf übernatürlichen Glaubensinhalten basieren, die Naturwissenschaften jedoch nur real vorhandene Dinge erforschen können, ist der Begriff "Schöpfungstheorie" widersprüchlich. Schöpfungsmythen sind Sache des nicht überprüfbaren subjektiven Glaubens, Theorien die Resultate naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, die auf objektiven Daten basieren.
Factum: Das Lehrbuch "Evolution" von Scherer und Junker belegt, dass Ursprung und Geschichte des Lebens nicht ohne weltanschauliche Grenzüberschreitungen erforscht werden können. Nun wurde dieser Titel mit dem Schulbuchpreis 2002 ausgezeichnet. Hat die Jury richtig entschieden?
Kutschera: Ihre Frage enthält eine unzutreffende Behauptung. Die Geschichte des Lebens wurde unter Verwendung von Dokumenten (Fossilien) rekonstruiert. Weltanschauliche Betrachtungen haben bei den betreffenden Paläobiologen und Geologen keine Rolle gespielt. Das Schulbuch von R. Junker und S. Scherer (ich beziehe mich auf die 3. Aufl. 1992 und 4. Aufl. 1998) ist didaktisch gut aufgemacht und zu einem Preis zu erwerben, den kaum ein anderer Verlag ohne Sponsoren halten könnte. Die Autoren haben es sich zum Ziel gesetzt, der Evolution eine auf der Schöpfungslehre beruhende Gegenposition bei Seite zu setzen. Dieses auf biblischen Dogmen basierende "Schöpfungsmodell" wird von den Autoren wie folgt umrissen: Die heute lebenden Organismen sollen auf getrennt erschaffene "Grundtypen" zurück gehen. Die erschaffenen Arten waren von Anfang an perfekt organisiert und zu beschränkter Variation befähigt. Der Schöpfungsakt ist "naturwissenschaftlich nicht nachvollziehbar". In einer Abbildungslegende findet sich die bemerkenswerte Aussage: Aus der Schöpfung folgt die Voraussage, dass Zwischenformen zwischen Grundtypen niemals existierten und auch künftig nicht gefunden werden.
Diese Bauplan-Mischtypen sind jedoch fossil und rezent im Tier- und Pflanzenreich dokumentiert und in meinem Lehrbuch beschrieben. Würden perfekt erschaffene Arten existieren, so gäbe es keine C3-Pflanzen (90 % aller Gewächse mit fehlerhafter Photosynthese); wir kennen C3-/C4-Übergangsformen: hier wird ein Photosyntheseapparat Schritt für Schritt umgebaut (Makroevolution); der perfekt erschaffene Mensch würde keine Bandscheibenprobleme bekommen und nicht an Krebs sterben; die Dinosaurier wären nicht ausgestorben. Die Jury war offensichtlich überwiegend mit biologischen Laien besetzt und hat daher so entschieden. Aus meiner Sicht ist das Werk als gelungenes Propagandastück des deutschen Neo-Kreationismus zu bewerten und als "Lehrbuch" völlig ungeeignet, da ein verzerrtes Bild der Evolution vermittelt wird. So sind z. B. die "Grundtypen" als "geschaffene Arten" eine freie Erfindung der Autoren. Diese Begriffe existieren in der Evolutionsbiologie nicht und disqualifizieren daher das Buch.
Factum: Evolutionskritiker geben vor, die Evolution sei unbewiesen. Bis heute fehle der experimentelle Beweis. Sind Sie anderer Meinung? Wer oder was hat den Evolutionsmechanismus bewiesen?
Kutschera: R. Junker und S. Scherer liefern eine populäre Fehldefinition der Naturwissenschaft Biologie: diese basiert nicht ausschließlich auf Experimenten, wie die Autoren vorgeben, sondern auch auf historischen Dokumenten. In den USA wurde vor einigen Jahren das teuerste Dokument der Paläobiologie, ein 65 Millionen Jahre altes Tyrannosaurus rex-Skelett für 8,36 Millionen Dollar verkauft. Evolution (das Andersartigwerden der Organismen im Verlauf unzähliger Generationsabfolgen) ist eine durch mehr als 250 000 fossile Arten dokumentierte Tatsache; dieses Faktum wird durch ein System von Aussagen (die Erweiterte Synthetische Theorie) beschrieben und erklärt. Es gibt zahlreiche Experimente zur Überprüfung der derzeit akzeptierten Evolutionsmechanismen, die ich in Kapitel 9 meines Buches beschrieben habe. Allerdings ist unser Bild von den Antriebskräften des evolutiven Artenwandels noch lückenhaft. Dies gilt aber auch für andere Teilgebiete der Biologie. Die 1839 formulierte Zellentheorie sagt aus, dass alle Lebewesen aus Zellen bestehen (aus heutiger Sicht eine dokumentierte Tatsache). Wir sind trotz jahrzehntelanger Forschung noch immer weit davon entfernt, alle zellulären Vorgänge auf molekularem Niveau im Detail zu verstehen. Kein sachkundiger Biologe zweifelt jedoch mehr daran, dass das klassische Postulat (Lebewesen sind aus Zellen aufgebaut) korrekt ist. In diesem Sinne sollte der Begriff Evolutionstheorie verstanden werden.
Factum: Sie bezeichnen den Kreationismus als "Extremposition einiger Aussenseiter". Wozu dann der Aufwand, einigen Exoten ein ganzes Kapitel in Ihrem Lehrbuch zu widmen?
Kutschera: Während eines mehrjährigen Forschungsaufenthaltes in den USA (Stanford University, Michigan State University) habe ich miterlebt, welchen Schaden die fundamentalistischen Anhänger des biblischen Schöpfungsglaubens (Kreationisten) der Naturwissenschaft Biologie zufügen können. Evolution ist als dokumentierte Tatsache zur Über-Disziplin und Fundament der Biowissenschaften geworden. Ohne eine evolutionäre Sicht sind die Organismen nicht naturwissenschaftlich analysierbar, da der in der DNA niedergelegte historische Charakter ausgeblendet wird. Mit Erstaunen musste ich nach meiner Rückkehr nach Deutschland feststellen, dass sich auch hier eine Kreationisten-Szene etabliert hatte, deren Ziel es ist, die Vor-Darwinsche, auf biblischen Offenbarungen basierende "Schöpfungstheorie" unter Verdrehung und Ignorierung biologischer Fakten der Jugend näher zu bringen. Im Buch von R. Junker und S. Scherer habe ich dann u. a. die folgenden Fehlinformationen gefunden: Das dokumentierte Erdalter von etwa 4,6 Milliarden Jahren sei eine "verbreitete Annahme"; die Endosymbiontentheorie sei hochgradig unwahrscheinlich; fossile Übergangsformen seien nicht nachweisbar. Wenn derartige Behauptungen in einem Schulbuch stehen, kann der in Forschung und Lehre aktive Evolutionsbiologe nicht länger schweigen. Nach dem Motto "wehret den Anfängen" habe ich dann in Kapitel 11 meines Buches die Haupteinwände gegen die Evolutionstheorie und die entsprechenden Gegenargumente dargelegt. Dort kann der am Evolutionskonzept Zweifelnde die entsprechende Sachinformation nachlesen. Würden Sie ein Mathematikbuch empfehlen, in dem steht, dass nach "verbreiteter Annahme" 2 mal 2 gleich 4 ist?
Factum: Ist denn Otto Normalverbraucher, der an Gott und seine Schöpfung glaubt, ein bemitleidenswerter Tor?
Kutschera: Es ist ein bedauernswerter Missstand, dass die Biologie an deutschen Schulen nur eine Nebenrolle spielt. Ich bin dennoch davon überzeugt, dass die Mehrheit der aufgeklärten Bürger eine naturalistische Weltsicht vertritt. Glaube und Wissen sollten nicht vermengt werden, wie es die oben angesprochenen Verkünder der "Schöpfungstheorie" tun, sondern getrennte Ebenen einnehmen. Ich kenne bedeutende Biologen, die vom Konzept (Faktum) Evolution überzeugt sind und dennoch als gläubige Christen regelmäßig in die Kirche gehen. Eine wörtliche Interpretation biblischer Schöpfungsmythen passt allerdings nicht mehr in unsere Zeit, da die Geologie und die Biowissenschaften enorme Fortschritte gemacht haben, die nicht einfach ignoriert werden können. Eine Aufwertung der Jahrhundertwissenschaft Biologie, der wir u. a. unsere gute Ernährung und Gesundheit verdanken, wäre wünschenswert, um dem Bildungsmangel zum Thema Evolution entgegen zu wirken.
Factum: Auf welche Begriffe könnten Sie am ehesten verzichten, ohne Ihre Weltanschauung zu tangieren: "Natur", "Zufall", "Liebe", "Tod", "Gott", "Planung", "Selektion", "Wunder"?
Kutschera: Die Begriffe Natur, Liebe (im Sinne von Fortpflanzung), Tod und Selektion haben direkten Bezug zur Evolutionsbiologie, da diese eine echte Natur-Wissenschaft ist: Populationen bestehen aus sich fortpflanzenden sterblichen Individuen, die in ihren Nachkommen weiterleben; durch Aussterben der nicht an die Umwelt angepassten Varietäten (natürliche Selektion) kommt es zum Andersartigwerden dieser Fortpflanzungs-gemeinschaften im Verlauf tausender von Generationen. Diese Evolution kann u. U. zu einer Komplexitätszunahme ("Höherentwicklung") führen, muss es aber nicht (z. B. Höhlentiere, die von Freilichtpopulationen abstammen). Der Zufall (Schaffung genetischer Variabilität) spielt im Evolutionsgeschehen die primäre Rolle; die Selektion ist dann der richtungsgebende Prozess. Dieser Zweistufencharakter des Evolutionsmechanismus wird häufig nicht verstanden, so dass sich das Unwort von der "Darwinschen Zufallstheorie" ausbreiten konnte. Die Begriffe Gott, Planung (im Sinne von Schöpfungsplan), Wunder und Liebe (bezogen auf zwischenmenschliche Beziehungen) haben in der Naturwissenschaft Biologie keinen Raum, da nur reale Dinge erforschbar sind und Bausteine von Theorien werden können. Sie spielen allerdings im Privatleben vieler Menschen (auch einiger Biologen) eine große Rolle und sollten daher dem persönlichen Glaubens- und Gefühlsbereich vorbehalten bleiben. Im letzten Kapitel meines Buches (Naturwissenschaft und Glaube) habe ich eine evolutionäre Ethik umrissen, auf die ich hier verweisen möchte.
Factum: Herzlichen Dank für Ihre Antworten!
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an Thomas Waschke | Stand: 16. Januar 2003 |